Mitzählen, mentales Training und Programme

Zahlen beherrschen unser Leben. Wir messen uns in Größe und Gewicht, unseren Erfolg an der Gehaltsabrechnung und unser Auto an PS und Spitzengeschwindigkeit. Im Sport regieren Platzierungen und Rekorde, beim Schießen natürlich Ringe und Gesamtergebnisse. Trotzdem betreiben die Schützen um ihre Leistungszahlen einen obskuren Kult. Immer wieder hört man den Rat, auf keinen Fall während der Serie mitzurechnen. Einmal soll das Addieren nämlich Geisteskraft kosten, zum Anderen würde man bei Annäherung an ein hohes Resultat immer nervöser. Wer 9 Zehner hintereinander geschossen hat, wird beim nächsten Schuss die 100er-Serie vor Augen haben und vor lauter Erregung einen Neuner, wahrscheinlich sogar die Acht treffen. Besser ist es, jedes Mitzählen zu unterlassen.

Das sieht man schon an den "dummen" Schützen, die einfach deshalb besser sind, weil sie ihre Fabelresultate gar nicht mitbekommen. Überdies sollte man, so die landläufige Meinung, im Training möglichst wenig "auf Resultat" schießen. Sonst hat man nämlich nur die Zahlen vor Augen und vernachlässigt die Konzentration auf den Schuss. Alles Blödsinn, offen gesagt. Schon als Junior hatte ich mit diesen Empfehlungen so meine Schwierigkeiten. Einmal war es mir fast unmöglich, die automatische Zählung meiner "Miesen" zu unterbrechen; mein Hinterkopf notierte Neuner und Achter wie von selbst und spuckte unablässig Zwischenergebnisse und Hochrechnungen aus. Das Trainingsschießen ohne Zählung war mir schlicht unmöglich, weil drei Neuner und zwei Zehner auf einer Scheibe schlicht 47 Ringe ergeben, also eine 94er und damit zu erwartende 376... Die "alte Weisheit" vom Schießen ohne Ergebnis war wohl immer schon eine Legende, die allenfalls einem Anfänger gelingen kann, bei dem 7er und 8er schlichtweg seine mathematischen Kapazitäten übersteigen.

Inzwischen sind solche Erwägungen von der Zeit überholt, denn immer mehr Stände werden mit elektronischen Trefferanzeigen ausgerüstet. Die zeigen jeden Schuss inklusive Auswertung auf Zehntel an und zeichnen darüber hinaus die Verteilung auf. Praktisch alle Schützen des gehobenen Durchschnitts kennen ihren laufenden "Score" selbst auf Papierscheiben haargenau. Die meisten können kritische Schüsse mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhersagen. Das ist keine Schwäche, sondern absolut notwendig.

Das exakte Mitzählen hat nämlich gleich mehrere wichtige Funktionen: – Der Schütze sollte alles über seine Treffer wissen, um bei Fehlern in der Auswertung gezielt reklamieren zu können. – Die Ergebniserwartung ist ein wichtiger Motivationsfaktor. Wie ein Bergsteiger den Gipfel im Auge hat, so wird ein Schütze sein Zielresultat anstreben. Jede Anstrengung ist dringend auf eine möglichst konkrete Orientierung angewiesen.

– Hohe Ergebnisse erzeugen ebenso psychischen Druck wie schwache. Der Schütze sollte sich in Training und Wettkampf daran gewöhnen, gegen Schwächen zu kämpfen und starke Entwicklungen durchzustehen. – Neben Addition und Hochrechnung enthalten die erreichten Schussplatzierungen viele weitere Informationen. Das Trefferbild weist auf technische Fehler hin, die Trefferverteilung auf die Justierung des Diopters.

Bei Wind- und Lichtwechsel muss der Schütze registrieren, welche Verhältnisse zu möglicherweise systematischen Abweichungen führen. Kurzum, die mentale Aufzeichnung von Trefferwert und Trefferlage gehört zu den Grundfertigkeiten des Sportschützen. Sie sollte geübt werden, bis sie die exakte Wiedergabe eines jeden Schießens ermöglicht. Eine Übung zu diesem Zweck ist die abendliche Rekonstruktion des Geschehenen.

Dazu solltest du dich vor dem Einschlafen möglichst genau an jedes Detail erinnern. Rekonstruiere einen Treffer nach dem anderen, vom ersten Probe- bis zum letzten Trainings- oder Wettkampfschuss. Je nach deiner Fertigkeit in dieser Kunst solltest du der Reihe nach die folgenden Fragen beantworten können: 1. Welchen Wert hatte der Schuss? (z. B. 10.3) 2. Wo lag der Treffer? (z. B. 10,3; 2 Uhr) 3. Wie sah das Schussbild der Serien aus? (z. B. erste Serie Hoch-/Tiefverteilung). Sobald du dich in dieser Weise mit deiner Schussfolge beschäftigst, werden dir nach und nach viele weitere Details einfallen. Du wirst dich vielleicht an deine Gedanken zwischen den Schüssen erinnern, an die Erregung beim ersten oder letzten Schuss.

Wann hast du deinen Anschlag korrigiert, wo vielleicht dein Auslösen beschleunigt? Du wirst dich an Phasen erinnern, in denen du wirklich gut geschossen hast. Und die solltest du vor deinem inneren Auge ausgiebig genießen, weil dieses "Playback" richtiges Verhalten in der Zukunft verstärkt. Fehler werden demgegenüber in der geistigen Nachschau unterdrückt. Besser ist es, du überlagerst die misslungenen Passagen mit einer Korrektur. Nutze deine Phantasie, um dir auszumalen, wie du es hättest besser machen können. Je öfter du dein Schießen in dieser Weise nachvollziehst, desto wirklicher werden die Eindrücke in deiner Erinnerung.

Programme schießen? Obwohl es viele Empfehlungen für alternative Trainingsformen gibt, halten Schützen bis in die Leistungsspitze hartnäckig daran fest, in erster Linie komplette Programme durchzuschießen. Auch im Training werden 40- bzw. 60-Schuss-Serien mit dem Luftgewehr absolviert. Mit dem Kleinkaliber wird der klassische Dreistellungskampf über 3x20 bzw. 3x40 durchgearbeitet.

Mögen die Trainer noch so oft Trefferbilder, Trockentraining oder Schießspiele nahe legen, die Aktiven bevorzugen die immer wiederkehrende Abfolge der Wettkampfform. Ein Grund für diese Vorliebe besteht wohl in der engen Beziehung zur Zahl. Nichts motiviert das an sich eintönige Nacheinander von Schüssen intensiver als die immer währende Auseinandersetzung mit dem "Score".

Jede 10er-Serie ist eine neue Runde des Kampfes, egal ob man um den 9er-Schnitt oder die 100er-Serie kämpft. Wer ohne Scheibenbeobachtung schießt oder lediglich Schussbilder zusammenfeuert, merkt bald, wie Lust und Konzentration abnehmen. Ohne das Ergebnis im Hinterkopf läuft wenig. Sicherlich schaden die alternativen Trainingsformen nicht. Trotzdem solltest du kein schlechtes Gewissen haben, wenn du doch lieber Wertungsprogramme schießt...